Bierut - Dekrete schon aufgehoben?
Überraschung aus dem Sejm Archiv

Nachdem bereits seit Jahren über die Fortwirkung tschechischer Vertreibungsdekrete gestritten wird, gerieten in den vergangenen Wochen auch die polnischen Bierut-Dekrete, Grundlage für die Vertreibung von etwa zwölf Millionen Ostdeutschen zum Ende des Zweiten Weltkrieges auf die Tagesordnung der deutsch-polnischen Beziehungen. Die Situation spitzte sich zu, nachdem der bayerische Ministerpräsident und Kanzlerkandidat der Unionsparteien, Edmund Stoiber, beim jüngsten Deutschlandtreffen der Ostpreußen am 22. Juni 2002 in Leipzig nicht nur die Aufhebung der tschechischen Benesch- sondern auch der polnischen Bierut-Dekrete gefordert hatte.

Vom Auswärtigen Ausschuß des polnischen Sejm wurde Stoiber daraufhin vorgeworfen, er habe in Leipzig den Rechtsstatus, die Eigentumsverhältnisse und die gesellschaftlichen Verhältnisse in den „wiedergewonnenen" polnischen Westgebieten in Frage gestellt. Erstaunlich ist dabei, daß selbst im Jahre 2002 in einer offiziellen Stellungnahme des Parlamentes der heute in die Europäische Union strebenden Republik Polen die chauvinistische Bezeichnung „wiedergewonnene" Gebiete enthalten ist. Die Vertreibung der Ostdeutschen und die Westverschiebung Polens und Rußlands war ein Akt stalinistischer Willkürpolitik, von dem sich demokratische Repräsentanten des heutigen Polen distanzieren sollten. Nicht einmal die polnische Exilregierung in London war zum Ende des Zweiten Weltkrieges mit dem Ausmaß der damaligen, von Stalin betriebenen, Westverschiebung Polens einverstanden. Polnische Politiker aus dem nationalkatholischen Lager und der Bauernpartei warnten mit Blick auf die Stoiber-Rede bereits vor einem neuen deutschen Revisionismus, obwohl kein einziger deutscher Politiker die heutige Grenze zwischen Deutschland und Polen infrage stellt. Stoibers Forderung, das „Recht auf die Heimat" auch der deutschen Vertriebenen zu respektieren, wurde von diesen nationalistischen polnischen Kreisen zum Anlaß genommen, vor anhaltenden deutschen Forderungen nach einer Wiedergewinnung der Oder-Neiße-Gebiete zu warnen. Wer jedoch nicht ohne Grund glaubte, daß hier nun auch in den aktuellen deutschpolnischen Beziehungen ein übler heftiger Streit entfacht würde, wie er nun schon seit vielen Monaten um die sudetendeutsche Frage entbrannt ist, wurde bald eines Besseren belehrt. Bereits wenige Tage nach der StoiberRede in Leipzig besuchte der CDU-Politiker Wolfgang Schäuble, im „Kompetenzteam" des Kanzlerkandidaten der Unionsparteien für Außen- Sicherheits- und Europapolitik zuständig, Warschau, um die polnische Regierung zu besänftigen. Im Auftrage Stoibers erklärte Schäuble der „Frankfurter Allgemeine" zufolge, daß eine von der Union geführte Bundesregierung nicht die Absicht habe, zur Vergangenheit zurückzukehren. Man werde sich nicht mit juristischen Spitzfindigkeiten befassen, ob und wann welche Dekrete aufgehoben worden seien. Stoibers Ankündigung vom vorangegangenen Sonntag, er werde sich dafür einsetzen, daß die polnischen Vertreibungsdekrete aufgehoben werden, sei vielleicht missverständlich gewesen.

Schäuble in Warschau

Dic eigentliche Wendung in dieser Frage ist jedoch auf eine Initiative Michael Ludewigs, des Korrespondenten der „Frankfurter Allgemeine" (FAZ) in Warschau, zurückzuführen. Dieser hatte nämlich den angesehenen Warschauer Zeithistoriker Wlodzimierz Borodziej gebeten, in der öffentlich nicht zugänglichen Datenbank des polnischen Parlamentes nach den Bierut-Dekreten zu forschen. Dabei machte Borodziej der FAZ zufolge die überraschende Entdeckung, daß die polnisch-kommunistischen Regierungen bereits vor den revolutionären Umwälzungen von 1989 die wichtigsten Vertreibungsdekrete außer Kraft gesetzt hatten. Dies gilt insbesondere für den „Ausschluß von Personen deutscher Nationalität aus der polnischen Gesellschaft" und für die Übernahme damaligen deutschen Vermögens durch den polnischen Staat sowie die Bestrafung von polnischen Staatsbürgern, die während der Besatzungszeit die deutsche Volksliste unterzeichnet hatten.Im Kern gehe es um das „Gesetz über den Ausschluß feindlicher Elemente aus der polnischen Gesellschaft` vom 6. Mai 1945, um das „Dekret über die strafrechtliche Verantwortlichkeit für die Verleugnung der polnischen Nationalität während der Kriegszeit in den Jahren von 1939 bis 1945" vom 28. Juni 1946 sowie das „Gesetz über das verlassene und aufgegebene Vermögen" vom 6. Mai 1945. Während die ersten beiden Bestimmungen schon durch polnische Amnestieund Staatsbürgerschaftsgesetze in den Jahren 1949 und 1951 aufgehoben wurden, sei letzteres erst am 29. April 1985 mit der Beschließung des „Gesetzes über Raumwirtschaft und die Enteignung von Grund und Boden" außer Kraft getreten.


Aufhebung durch die Kommunisten

Es sei ein Treppenwitz der Geschichte, erklärte Borodziej, daß ausgerechnet die Kommunisten schon getan hätten, was in Unkenntnis der Gesetzeslage jetzt von Repräsentanten der deutschen Vertriebenen und deutschen Politikern nun als Geste der Versöhnung von Polen gefordert werde. Den Kommunisten sei es 1949 und 1951 jedoch nicht um Verständigung mit den deutschen Nachbarn gegangen, sondern man habe beabsichtigt, nach der „Lösung der deutschen Frage" eine homogene stalinistische Gesellschaft zu formieren. Die kommunistischen Machthaber hätten auch die zu entrechteten Außenseitern gemachten Deutschen als Rekrutierungsbasis für das System angesehen. Das Gesetz von 1985 wiederum sei beschlossen worden, als Polen international isoliert gewesen sei. Im Ausland habe daher niemand Notiz davon genommen. Das Gesetz sei auch im Inland nicht mit der Vertreibung der Deutschen verbunden worden. Die Aufhebung aller zuvorigen Rechtsakte, welche die in diesem Gesetz behandelte Materie berührten, sei einfach „abgehakt" worden.Bei Redaktionsschluß lagen keine Stellungnahmen aus den Landsmannschaften der vertriebenen Ostdeutschen oder etwa der deutschen und polnischen Regierung zu dieser bahnbrechenden Enthüllung vor. Überraschend ist dabei auch die Erkenntnis, daß die polnischen Kommunisten offensichtlich Vertreibungsdekrete außer Kraft setzen konnten, deren Eliminierung von heute demokratisch gewählten Politkern in Warschau offensichtlich bislang nicht ernsthaft erwogen wurde. Auch die halsstarrige Position „demokratischer" Politiker in Prag in der Frage der Benesch-Dekrete gerät durch die neuen Erkenntnisse über das Vorgehen der polnischen Kommunisten noch mehr ins Zwielicht. Davon unabhängig wird die heutige polnische Regierung in Warschau vor der Geschichte einmal danach bewertet werden, welche machbare Wiedergutmachung im sich vereinigenden Europa den vertriebenen Ostdeutschen geleistet wurde, denn das offene Vertreibungsunrecht reduziert sich nicht nur auf die Frage der Fortgültigkeit einzelner Vertreibungsdekrete. Norbert Zurek